Kristin Jankowski ist Journalistin, Autorin und Muay Thai Coach. Nachdem sie über die Aufstände in Ägypten im Jahr 2011 in Ägypten berichtet hat, begegnete ihr in Kairo Muay Thai Master Refaat Gaber, der in seinem Heimatland eine lebende Legende ist. Refaat Gaber ist der Technische Manager des ägyptischen Muay Thai Nationalteams.
Während sie mehrere Kinderbücher veröffentlichte und ein Theaterstück mit unterprivilegierten Kindern auf die Bühne brachte, trainierte Jankowski viele Jahre in Master Gabers Akademie in Ägyptens Hauptstadt und lernte, dass nicht nur Kraft und Ausdauer zum Kampfsport gehören, sondern auch Respekt, Resilienz und Fairness. Nachdem Master Refaat ihr die Möglichkeit gab, eine eigene Frauengruppe zu trainieren, erkannte sie schnell, welche positiven Effekte das Training auf das Wohlbefinden der Damen hat. Ihr ist klar: Es liegt Magie im Boxtraining. Was genau dahinter steckt, will sie von dem Berliner Boxtherapeuten Robert Rode wissen:
Erfolgreich hebst du in Berlin den Boxsport aus der Schmuddelecke und nutzt ihn, um Menschen aus Lebenskrisen zu helfen und neue Perspektiven aufzuzeigen. Das klingt ja erstmals ziemlich verrückt. Wie schaffst du es, zwischen Schweiß, Kinnhaken und Deckung deine Klienten dabei zu unterstützen, aus Niederlagen zu lernen und eine zielführende innere Einstellung zu erarbeiten?
Zunächst biete ich als Coach meiner Klientel einen sicheren Raum, in dem alles sein darf. Denn alles, was in unsicheren Beziehungen an Wunden entstand, und oft unterdrückt werden musste, nicht wahr sein durfte, kann nur in sicheren Beziehungen zum Positiven transformiert werden. Hier agiere ich als Anwalt meiner Klienten und nicht als Kläger oder Richter. Es gilt oft, resultierend aus alten Bindungs- und Entwicklungstraumata, die Wut, Trauer, Scham, Schuld und vor allem Ängste anzuschauen, anzunehmen und als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren und zu integrieren. Wir stellen den passiven Widerstand gegen diese Gefühle ein, steigen aber aktiv mit diesen Gefühlen in den Ring. Wir lassen diese zu und schauen welches Vermeidungsverhalten wirklich hilft und wann wir die Deckung öffnen müssen, um selbst Wirkungstreffer zu setzen. Wer sich öffnet ist verletzlicher, das kalkulieren wir mit ein, trainieren die verschiedensten Szenarien.
Fast immer sind Boxer nach Niederlagen und Niederschlägen gestärkt in den Ring zurückgekehrt, nämlich genau dann, wenn die verborgene Kraft, die in solchen Niederlagen steckt, verstanden und genutzt wird. Der Boxsport ist ein großartiger Sport, weil er neben der enormen Körperertüchtigung viele mentale Vorteile liefert, wie unter anderem Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Ich diene letztlich als Impulsgeber, der die Selbsterkenntnis, und die Verantwortung über die Selbstwirksamkeit meiner Klientel fördert. Der Vollkontakt mit blutigen Nasen ist dabei nur sehr selten nötig. Nur für diejenigen, die den Wunsch haben sich zu messen, finden in mir einen schützenden Trainer der das Sparring moderiert.
Oft bringen uns Leidensprozesse in den Stillstand und wir wissen nicht mehr weiter und dann kommt das therapeutische Boxtraining, das uns wieder in Bewegung bringen kann. Wie hängen Körper und Geist zusammen?
Der Körper trägt immer die Last der Erinnerung, die war oft traumatisch, toxisch oder anderweitig verletzend. Seelische Beschwerden äußern sich dann oft durch ein störendes und blockierendes Körpergefühl, bis hin zu Ängsten oder sogar Panikattacken. Die Vergangenheit wird unterbewusst reinszeniert, auch in aktuellen Bindungen. Wir alle kennen den sprichwörtlichen dicken Hals, etwas auf dem Herzen haben, mir sitzt was im Nacken, den Boden unter den Füßen verlieren, oder ich bin wie gelähmt. Hier trifft folgende Metapher zu: „Die Seele sagt zum Körper gehe du vor auf mich hört er nicht und der Körper antwortet: Ich werde krank dann hat er Zeit für dich“.
Oft kommen Menschen zu mir die nicht mehr mit dieser Erschöpfung leben wollen oder können. Beim therapeutischen Boxen setzen wir uns in Bewegung und bringen das Unaussprechliche zu Sprache, denn der Körper spricht! Das lindert und wandelt häufig Wut zu Mut. Denn der Schmerz ist nicht dazu da uns leiden zu lassen, sondern um uns in Bewegung zu versetzen. Vielleicht dorthin, in den Ring des Lebens, wo das jahrelang aufgeschobene klärende Krisengespräch, die Trennung, oder die Kündigung im Außen, als eine Folge der inneren Stärkung stattfindet. Diese selbstwirksamen Handlungen führen dann zur Steigerung des Selbstwertes und der Selbstliebe. Denn Selbstliebe ist die Form von Liebe, die übrig bleibt, wenn die Abwertung schweigt. Das ist was wir anstreben, der Geist folgt einem gestärkten Körper und der Körper folgt einem gut eingestellten Geist.
Im Kampfsport geht es meistens zuerst um den Begriff „Selbstbehauptung“: Grenzen setzen, Bedürfnisse äußern, sich verteidigen und „Nein“ sagen können. Wie kann Selbstbehauptung durch das Boxtraining erlernt und im Alltag angewendet werden?
Im klassischen Kampfsport geht es um eine Balance, aus Selbstbeherrschung, körperlicher Schulung und mentaler Disziplin, um sich im sportlichen Wettkampf zu behaupten. Hier wird der Sieg über den Kontrahenten angestrebt, der das Selbstbewusstsein steigert und unterstützend im Alltag wirkt. Beim Mentalboxen steigen Menschen vom Schreibtisch in den Ring um verbal im kommunikativem Sparring Selbstbehauptung zu üben. Um den Mut aufzubringen, Raum einzunehmen, Grenzen zu setzen und die eigene Stimme wiederzufinden zu stärken und auch einzusetzen .
Das sind Übungen vor dem Spiegel mit dem eigenen Spiegelbild, die nicht immer Boxübungen beinhalten. Boxen ist hier nicht Kampf gegen den Anderen, sondern Begegnung mit sich selbst. Jede Bewegung, jeder Atemzug, jeder Schlag ist ein Statement: Ich bin da, ich gebe mir selbst die Wertschätzung die ich verdiene. Im Training lernen die Teilnehmenden, ihren Körper als Resonanzraum für innere Klarheit zu nutzen. Eine stabile Haltung, ein fester Stand und bewusste Atmung wirken direkt auf das Nervensystem, sie vermitteln Sicherheit und Präsenz. Wer gelernt hat, körperlich Haltung zu zeigen, kann sie auch im Alltag halten. So wird aus dem Jab ein körperlich verankertes „Nein“, aus einem klaren Blick eine nonverbale Grenze. Diese Erfahrung hilft sicher auch in anderen Lebenskontexten.
Der größte Feind sind oft wir selbst. Wie kann das Boxtraining inneren Verletzungen mit Liebe und Fürsorge begegnen und es in Stärken umwandeln?
Der größte Gegner im Leben ist selten der Andere, sondern das, was wir in uns selbst bekämpfen. Alte Verletzungen, zurückgehaltene Wut, Enttäuschung oder Scham, sie wirken fort, solange wir diese vermeiden, nicht fühlen wollen. Im therapeutischen Boxen geht es nicht darum, diesen Schmerz wegzuschlagen, sondern ihm mit Liebe und Fürsorge zu begegnen. Der lange Verband um unsere Wunde kann endlich abgewickelt werden, denn nur dann hört die Wunde auf zu eitern und im weiteren Verlauf zu heilen.
Wenn wir boxen, kommt Bewegung in das, was erstarrt war. Der Körper darf ausdrücken, was Worte manchmal nicht schaffen. Ohnmacht, Wut, Angst. Doch anstatt die Energie zu zerstören, wird sie geführt, geerdet und verwandelt. Der Schlag ist kein Angriff, sondern ein Ausatmen. Er sagt: Ich bin bereit, hinzusehen. In diesem Moment entsteht Verbindung, zwischen Körper, Gefühl und Bewusstsein. Liebe und Fürsorge bedeuten hier, den Schmerz nicht zu verurteilen, sondern ihn als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen. Wenn der Körper lernt, Spannung zu entladen, entsteht innerer Raum für Mitgefühl.
Und Mitgefühl verwandelt das, was einst schwach machte, in Stärke. Beim Seelenboxen heißt Stärke nicht, keine Angst mehr zu haben, sondern trotz Angst präsent zu bleiben. Mut ist trotz Angst handeln! Es ist die Kunst, sich selbst mit derselben Zuwendung zu begegnen, die man einem verletzten Kind schenken würde. Boxen ist keine Flucht vor dem Schmerz, es ist die liebevolle Rückkehr zu
sich selbst. Und dort, in dieser Begegnung, beginnt Heilung.
Im Kampfsport muss auch mal richtig eingesteckt werden, wie im wahren Leben. Jeder wird irgendwann K.O gehauen. Wie kann gelernt werden, leichter von den Niederschlägen des Lebens aufzustehen?
Leicht ist es selten, nach einem Knockdown aufzustehen. Aber was sollte die Alternative sein? Noch schwieriger wird es dann, wenn uns der Ringrichter ausgezählt hat, beim klassischen Knockout und die Niederlage im Kampf „amtlich“ ist. Nach einem solchen K.O. bekommen Boxer eine Sperrfrist für den Ring und eine Ruhezeit verordnet. Nicht ohne Grund! Vor allem deshalb, weil es schlicht Zeit
braucht bis Körper und Geist regenerieren können und aus Selbstzweifel wieder Zuversicht wird. Ähnlich ist es, oder sollte es sein, mit Schicksalsschlägen oder den Tiefschlägen im Leben! Leider geben uns die gesellschaftlichen Regularien selten genug Zeit dafür.
Ja, man kann lernen, nach den Niederschlägen des Lebens leichter aufzustehen, aber nicht, indem man Schmerz vermeidet, sondern indem man ihn als Teil des Lebensprozesses anerkennt. Leiden gehört dazu, weil es uns erinnert, dass wir fühlen, dass wir lebendig sind. Wenn wir das Leben nicht mehr als Kampf gegen das Unvermeidliche verstehen, sondern als Weg, auf dem Freude und Schmerz
gleichermaßen dazugehören, entsteht etwas Neues: Akzeptanz. Und aus Akzeptanz wächst innere Ruhe.
Boxen lehrt genau das. Man fällt, man steht wieder auf, man atmet, Runde für Runde. Der Körper lernt, dass Niederlagen nicht das Ende sind, sondern Übergänge. Jeder Schlag, der uns trifft, kann uns lehren, klarer zu sehen, tiefer zu spüren und liebevoller mit uns selbst zu werden. Wer das Leiden nicht mehr verflucht, sondern ihm mit Liebe und Verständnis begegnet, verwandelt es in Weisheit und Kraft. Das ist kein romantischer Gedanke, sondern eine gelebte Haltung: Ich darf stolpern. Ich darf fühlen. Und ich darf trotzdem das Leben lieben. „Stärke heißt nicht, nie zu fallen, sondern jedes Mal durch „Fallübungen“ weicher zu landen und mit offenem Herzen wieder aufzustehen.“
Seien wir ehrlich: Berlin ist ein ziemlich hartes Pflaster. Raubüberfälle, Leistungsdruck, Armut, Drogenhandel, Bürokratiewahn, Kriminalität, sehr teure Mieten und dazu enormer Wohnungsmangel, Bildungsnotstand, Einsamkeit. Hinzu kommen Angststörungen und Depressionen. Wie hältst du dich selbst gesund?
Jetzt sind wir beim Vermeiden von Schlägen, das den Boxer wesentlicher erfolgreicher macht, als ständiges Schlagen und austeilen wollen. Der alte Boxer ist reifer geworden und kehrt diesen von dir beschriebenen „Erscheinungen“ oft den Rücken zu. Back to the Roots und zurück zur Natur heißt es für mich regelmäßig. Der wundervolle Landkreis Barnim 50 km nordöstlich von Berlin hat es mir angetan. Eine Region in der ich den größten Teil meiner Freizeit verbringe. Häufig reist mir meine Klientel nach, zum gelegentlichen Waldbaden und Waldboxen.
Bewegung in der Natur trägt also definitiv zur Gesunderhaltung bei. Da kommt Freude auf, die Batterien werden geladen, die Gefühle haben Zeit die Seele einzuholen. Kochen von guter Kost, Sauna, Musik, Fahrrad fahren, Krafttraining und Kultur runden die Sache ab. Natürlich ist es auch möglich die schönen Seiten und Möglichkeiten Berlins wahrzunehmen, fällt mir aber selbst als Urberliner auch immer schwerer. „Berlin wie haste dir verändert“!
Inwiefern kann das therapeutische Boxen die Welt ein kleines bisschen besser machen?
Man wird es kaum glauben, ich habe in den vielen Jahren, in denen ich mit dem Kampfsport verbunden bin, selten friedlichere Menschen als in dieser Szene kennengelernt. Die Menschen die zu mir kommen, gehen gestärkt und mit guter Einstellung und Energie in ihre Lebensbereiche, das hat positive Auswirkung auf ihr Umfeld. Wenn wir die Welt verändern und verbessern wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen. Denn wir alle wissen, wir können Menschen nicht verändern, nur uns selbst. Ein friedlicher Boxer strahlt Gelassenheit aus, das färbt auf die Umgebung, dem Partner, der Familie, Freunde oder den Mitarbeitern ab. So gesehen ist mir immer noch, auch nach 25 Jahren, eine Freude und Genugtuung, Menschen stärken zu dürfen. Boxen für den Frieden!